Bedürfnis- und bindungsorientierter Alltag mit Hund
Keine Trainingsmethode, sondern eine Lebenseinstellung
Neulich sagte eine Nachbarin zu mir: „Der Happy ist schon ein toller Hund. Kann man mit dem eigentlich schimpfen?“
Darauf ich: „Mh, nein. Warum sollte ich auch? Wenn er etwas zeigt, was mir nicht gefällt, hab ich ihm entweder noch kein besseres Verhalten beigebracht. Oder er ist gerade mental nicht in der Lage, das gelernte Verhalten zu zeigen.“
Meint die Nachbarin: „Ja, das stimmt, auch wieder wahr. Der Fehler wird immer beim Schwächeren gesucht – leider.“
So einfach wäre die Hundewelt, würden alle Menschen so denken.
♥
Doch leider liegt es in unserer Natur, immer mit dem Finger auf den anderen, den Schwächeren zu zeigen. Und zu sagen: „Ätsch, du hast da einen Fehler gemacht“. Und das dann zu ahnden oder bestrafen. Sei es verbal, weil man sich hinterrücks über Fehler der Kollegen auslässt. Sei es mit einem Anschiss, den der 14-jährige Teenager oder auch der Hund kassiert. Oder sei es die “g’sunde Watschn” oder ein ordentlicher Leinenruck, mit dem man sein Gegenüber in die Schranken weisen möchte.
Fair ist das nicht. Und der Lernerfolg bleibt auch auf der Strecke. Denn was sollen Mensch und Hund dabei lernen, außer, dass das Gegenüber manchmal ziemlich harsch und unwirsch wird und sie sich besser vor seinen Launen in Acht nehmen sollten?
Bedürfnisorientiert = Modernes Hundewissen + Positive Verstärkung + Individuelle Hundepersönlichkeit
Die Herangehensweise im bedürfnisorientierten Umgang mit Hund ist eine völlig andere und erfordert von uns Menschen ein Umdenken. Ja, das mag anfangs schwer sein. Wie alles, was wir neu lernen wollen. Jede neue Routine oder jedes neue Hobby fühlt sich anfangs mühsam an. Bis es endlich zur Gewohnheit wird, man Spaß daran findet und nicht mehr viel darüber nachdenkt, wie man es machen muss. Meistens geht das Hand in Hand mit den ersten sichtbaren Erfolgen.
Bedürfnisorientierter Umgang mit Hund ist wie eine neue Fremdsprache lernen. Es ist nicht das klassische Hundetraining, nur mit Keksen. Es ist nicht die alte Herangehensweise, nur freundlich. Es ist etwas völlig anderes. Es hat nichts mit Hundetraining per se zu tun. Es ist eher ein Menschentraining. Es geht um das Erlernen neuer Fähigkeiten, das Aneignen von modernem Hundewissen und einer neuen Sichtweise auf unseren Partner Hund. Einem gleichwertigen Partner mit Gefühlen, Emotionen und Bedürfnissen.
Bindungsfördernder und bedürfnisorientierter Umgang mit Hunden heißt, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und auf die individuellen Bedürfnisse des Hundes einzugehen. Der Hund wird nicht durch Druck oder Strafen gefügig gemacht, sondern durch Verständnis und positive Erlebnisse in seinem Alltag unterstützt. So lernt er, sich am Menschen zu orientieren und fühlt sich sicher und geborgen. Ein Hund, dessen Bedürfnisse ernst genommen werden, zeigt weniger unerwünschtes Verhalten und kann sich entspannter und ausgeglichener im Alltag bewegen.
Aber dafür braucht es Menschen, die dazulernen wollen. Menschen, die umlernen wollen. Die sich mit der Hundeforschung mitentwickeln wollen, anstatt in Gehorsamsübungen aus den 1970ern stecken zu bleiben. Auch, wenn uns das mit veralteten Hundeschulstrukturen noch so vorgelebt wird, es ist nicht mehr zeitgemäß.
Und vor allem für viele Tierschutzhunde der völlig falsche Weg. Denn bei Ihnen geht es vorrangig nicht um Gehorsam. Bei Ihnen geht es in erster Linie darum, sie an ein neues, ungewohntes Umfeld zu gewöhnen. Die harte Zeit im Shelter, auf der Strasse oder der Tötungsstation vergessen zu lassen. Ein Sicherheits- und Vertrauensverhältnis zur Bezugsperson zu entwickeln, einer Bezugsperson, die die meisten von Ihnen noch nie im Leben hatten. Viele Dinge kennenzulernen, die völliges Neuland für sie sind: Autofahren, Leine, Brustgeschirr, freundlicher Kontakt zu Artgenossen, Fahrzeuge, Kinder, Katzen, Restaurantbesuch, Urlaub, Alleine bleiben, ausreichend Ruhe und Schlaf, Rückzugsmöglichkeiten, ein weiches Bett, regelmässig und ausreichend Futter, sauberes Wasser, etc.
Bedürfnisorientierter und bindungsbasierter Umgang mit Hund ist keine Trainingsmethode, sondern eine Lebenseinstellung. Wer nicht versteht, worum es dabei geht, wird sich schwer tun, Lösungen zu finden. Und immer wieder Ausreden finden, warum „das mit den Keksen“ doch nicht funktioniert.
Positive Verstärkung alleine reicht nicht aus
Der Begriff „positives Hundetraining“ ist meines Erachtens viel zu wenig für das, was wir im bedürfnis- & bindungsorientierten Umgang mit Hund versuchen zu vermitteln. Ich kann einem Hund auch positiv das Signal “Sitz” beibringen, aber trotzdem an seinen Bedürfnissen vorbei trainieren.
Positives Training oder Training auf Basis von positiver Verstärkung ist Bestandteil des bedürfnisorientierten und bindungsbasierten Umgangs. Wir arbeiten über Belohnungen statt Bestrafungen und verzichten auf jede Form der Gewalt, sei es körperlich oder psychisch.
Wenn wir beginnen, zu verstehen, warum Hunde das tun, was sie tun – ob es uns nun gefällt oder nicht – sind wir der Lösung ein paar Schritte näher gekommen. Die Ursache zu behandeln ist weitaus nachhaltiger und hundefreundlicher, als einfach nur ein Symptom abstellen zu wollen.
Bitte merke dir: Jedes Verhalten deines Hundes hat einen Grund. Wirklich jedes. Das mag für dich jetzt nicht plausibel klingen, aber glaube mir, unsere Hunde zeigen nur Verhalten, das sich aus ihrer Sicht lohnt. Deshalb ist es nur fair, bei – für uns – unerwünschtem Verhalten hinzuschauen und zu überlegen, was der Hund denn gerade braucht und wie ich ihm ein – für mich und die Gesellschaft – akzeptables Verhalten beibringen kann. Und nicht erst zu reagieren, wenn der Hund schon brüllend in der Leine hängt, den Postboten ins Wadl zwickt oder dem Reh bis ins Nachbardorf hinterher jagt.
Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Ja, mein Happy Dog ist mittlerweile ein toller Hund geworden. Ganz ohne Gewalt, Druck oder Anschreien. Und das, obwohl er der klassische „Problemhund“ ist, bei denen das ja angeblich nicht möglich ist, nur mit Verständnis und so. Sagen die mit viel Meinung, aber eben wenig Ahnung.
Sagen wir so, er war es auch schon vor 4 Jahren, als ich ihn kennengelernt habe. Aber es war aus diversen Gründen nicht möglich, dass dieser tolle Hund zum Vorschein kam. Nach seinen 7 Jahren in Isolation, 5 davon mit Gewalt, hatte Happy verständlicherweise große Probleme, sich an seinen neuen Alltag zu gewöhnen.
Er hatte in seinem Leben nichts kennengelernt, keinen Bindungs- und Sozialpartner, keine Hundefreunde, keine Abwechslung, keine Liebe, kein sicheres und geborgenes zu Hause, keine Hobbys – kurzum: von allem, was das Leben lebenswert macht, immer zu wenig. Dass ein Hund wie auch ein Mensch nach Jahren in Isolation psychisch völlig am Ende ist und gar nicht in der Lage, gesellschaftstaugliches Verhalten zeigen zu können, ist wohl für jeden nachvollziehbar.
Lies dazu gerne diesen Artikel: Happy, der Problemhund
Also: Sei fair zu deinem Hund und frage dich beim nächsten unerwünschten Verhalten, ob du deinem Hund das bessere Verhalten überhaupt beigebracht hast? Und ob er in dieser speziellen Situation in der Lage ist, das Gelernte bereits abrufen zu können. Oder ob er es selber noch verinnerlichen muss, indem du kleinschrittig und fair mit ihm arbeitest. Und dafür braucht du keine veraltete Hundeschule und keine Gehorsamsübungen. Dafür brauchst du Verständnis, Empathie und das notwendige moderne Wissen. Das Wissen darüber, was dein Hund braucht, um glücklich zu sein, was seine Bedürfnisse sind und wie du dieses im Rahmen eurer Möglichkeiten erfüllen kannst. Und zwar nicht 1x die Woche im Hundetraining, sondern 24/7 in eurem Alltag.
Niemand sagt, dass es einfach ist. Nein, es ist oftmals sehr intensiv, tagesfüllend und nervenaufreibend, wenn man einen Hund hat, der viele Baustellen mitbringt. Aber lässt man sich darauf ein, wird man gemeinsam mit dem Hund wachsen. Und vieles, was in der Hundewelt so passiert, mit anderen Augen betrachten und sich davon distanzieren. Jeder muss seinen richtigen Weg finden, aber das hier ist meiner.
Wenn ich dich dabei unterstützen kann, diesen modernen Weg auch mit deinem Hund zu gehen, buche gerne eine Hundesprechstunde für allgemeine Fragen oder eine Verhaltensberatung bei bereits bestehenden Verhaltensproblemen.
Wer will, findet Wege!
Wer nicht will, findet Ausreden!
Dieser Artikel passt dazu: Das mit den Keksen funktioniert bei meinem Hund nicht!
Daniela Loibl MBA MSc
- Hunde-Verhaltensberaterin
- verhaltensmedizinische Tierpsychologin
- zertifizierte Hunde-Ernährungsberaterin
- ehrenamtliche Hundetrainerin im Tierheim
- Buchautorin “Fred & Otto, Wanderführer für Hunde”
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