Ein Tierschutzhund zieht ein

Alltag mit Herausforderungen und Überraschungen

Die Vorfreude ist groß! Du möchtest einem Hund aus dem Tierschutz ein neues zuhause geben. Gerade Ersthundebesitzer stellt die Auswahl eines geeigneten Vierbeiners vor große Herausforderungen. Tierheime und Tierschutzvereine sind voll mit Hunden jeden Alters, unterschiedlichster Rassen und Charaktere. Jeder Hund bringt seine eigene Geschichte mit und kommt daher mit einem voll gepackten Rucksack an Erfahrungen zu Dir.

Wie sich diese auf euer Zusammenleben und das Verhalten des Hundes auswirken, lässt sich im Vorfeld nicht sagen. Von niemandem. Hunde verhalten sich im Tierheim oft anders als zuhause – nur weil ein Hund im Zwinger viel bellt, heißt es nicht, dass er das auch zuhause macht. Dennoch gibt es Rassen, die bellfreudiger sind als andere. Genauso wie jene, die es lieber gemütlich haben und jene, die für jede Sporteinheit zu begeistern sind.

Nur weil ein Hund mit anderen Hunden im Shelter oder auf einer Pflegestelle gelebt hat, bedeutet es noch lange nicht, dass er beim Spaziergang mit fremden Artgenossen klar kommt.

Es gibt Hunde, die wirklich Schlimmes erlebt haben und sich nicht vor die Haustüre trauen, dann gibt es Hunde, die aufgrund ihrer Vorerfahrungen aggressiv auf Umwelt, Mensch oder Tier reagieren und dann gibt es auch Hunde, die einfach nur im Hier und Jetzt leben und ihre Vergangenheit bereits vergessen haben.

Deine Entscheidung für den richtigen Hund sollte keinesfalls aus Mitleid getroffen werden und auch nicht aufgrund der Optik. Viel wichtiger ist es, deinen neuen Wegbegleiter mit Bedacht auszuwählen, rassetypische Bedürfnisse zu beachten, deine Lebenssituation und deine Möglichkeiten miteinzuplanen und dir bewusst sein, dass dein Hund anfangs mehr Unterstützung und Zeit braucht. Mitunter Wochen oder sogar Monate.

Lies gerne meinen Artikel: Tierschutzhunde verstehen

Tierschutzhund: Nicht geliefert, wie bestellt

Durch meine ehrenamtliche Arbeit im Tierheim bringe ich viel Erfahrung mit, einerseits was Hunde und deren Verhalten angeht, aber auch was Adoptanten an Vorstellungen und (hohe) Erwartungen haben.

Meinen eigenen Tierschutzhund habe ich nicht vom Fleck weg adoptiert, sondern langsam kennengelernt – und er ist ganz anders, als der Hund, den ich mir immer ausgemalt habe. Adoptiert habe ich ihn mit 7 Jahren, zuvor kannte er nur Kette oder Zwinger. Mitgenommen in sein neues zuhause hat er eine Leinenaggression und die Warnung vom Tierheim, dass er meine Katzen “auffressen würde”.

Die Leinenaggression gegenüber fremden Artgenossen ist geblieben, mit den Katzen versteht er sich nach intensivem Training super. Hinzugekommen sind jedoch im Laufe der ersten Monate Panikattacken, chronischer Stress, Geräuschängste, körperliche Baustellen (Gelenke, Magen), massiver Trennungsstress und völlige Reizüberflutung in unserem (ohnehin beschaulichen) Alltag.

Heute habe ich also einen traumatisierten, psychisch und körperlich kranken Hund an meiner Seite. War das so geplant? Natürlich nicht. Habe ich das wissen können? Jein. Wie sich seine Vergangenheit in jahrelanger Isolation, mit viel Gewalt und fehlender Sozialisierung auf unser Leben auswirkt, konnte man nur erahnen. Und hoffen, dass es nicht so schlimm wird. Nun leben wir schon fast 3 Jahre zusammen und ich kann sagen, die ersten 2 Jahre waren extrem anstrengend, nervenraubend und intensiv.

Denn um an all diesen Themen zu arbeiten, benötigt es Empathie, Zeit (viel Zeit), Geduld (viel Geduld), modernes Hundewissen, aber auch die finanziellen Mittel für diverse Behandlungen, professionelle Unterstützung (ja, auch ich suche Rat bei erfahrenen Kollegen, wenn ich nicht mehr weiter weiß oder einen Blick von außen haben möchte) und Weiterbildung.

Lies gerne meinen Artikel: Hallo, ich bin Happy!

Was dein Tierschutzhund braucht – und was nicht

Mit dem Einzug eines Tierschutzhundes mit unbekannter Vergangenheit kommen mitunter jede Menge Herausforderungen auf dich zu, mit denen du nicht gerechnet hast und die keiner vorhersehen kann. Je besser du vorbereitet bist, je mehr Wissen du hast und je weniger Druck du deinem Hund machst, desto entspannter wird der Einzug für alle Familienmitglieder.

Dein Hund kommt in ein für ihn völlig unbekanntes Umfeld. Dass es hier jeder nur gut mit ihm meint und das Beste für ihn will, muss er erst lernen. Er hat zu dem Zeitpunkt, wo er bei Dir einzieht, alles verloren – alle Menschen, die er bis dato kannte, Hundekumpels, mit denen er zusammen war sowie seine gewohnte Umgebung.

Auch, wenn das Leben im Ausland, im Shelter oder auf der Straße nicht schön war, es war dennoch das Leben deines Hundes. Das Leben, das er gekannt hat. Das Leben, dass ihm Strukturen gegeben hat. Und die sind mit dem Umzug zu dir auf einen Schlag weg.

Möglicherweise hatte Dein Tierschutzhund keine schöne Vergangenheit oder einen unglücklichen Start in sein Hundeleben. Gerade diese Hunde brauchen oft mehr Zeit zum Eingewöhnen, weil sie ängstlich oder unsicher sind oder in der Vergangenheit gelernt haben, sich mit aggressiven Verhaltensweisen unerwünschte Personen und/oder Hunde vom Leib zu halten.

Auch wenn du gerade überfordert oder verzweifelt bist, folgende Empfehlungen aus meiner Praxis solltest du auf jeden Fall berücksichtigen:

  • Gib deinem Tierschutzhund Zeit: Dein Hund macht nichts, weil er dir etwas auswischen will, der Chef sein will, dich kontrollieren will oder dominant ist. Er findet sich aus diversen Gründen in deinem Alltag noch nicht gut zurecht. Im Durchschnitt brauchen Tierschutzhunde ca. 6 Monate, um wirklich anzukommen. Das ist aber auch jene Zeit, in der nach und nach unerwünschte Verhaltensweisen entstehen, wenn dein Hund nicht optimal in der Eingewöhnung unterstützt wird. 2 Wochen Urlaub und dann wieder in deinen Alltag zurückzukehren, kann für viele Hunde überfordernd sein.
  • Erwarte nichts: Das Wichtigste ist, dass dein Hund einmal ankommen darf und Dein bzw. sein neues Leben in seinem Tempo kennenlernen darf. Leine, Brustgeschirr, Autofahren, Alleine bleiben, Kinder, Fahrradfahrer – all das kennt dein Tierschutzhund nicht. Du musst nichts überstürzen und auch nichts aufholen. Hunde lernen ein Leben lang und jeden Tag (nicht nur in den ersten 12 Wochen). Achte auf sein Wohlbefinden, versuche Stress zu vermeiden oder zu reduzieren, sei empathisch und sehe Deinen Hund als gleichwertiges Familienmitglied. Alles andere kommt dann mit der Zeit bzw. bringt positives Training sowie der bedürfnisorientierer Umgang mit sich.
  • Einzelcoaching statt Gruppenkurs: Der klassische Gruppenkurs für zB Grundgehorsam oder Leinenführigkeit ist gerade zu Beginn nicht die richtige Wahl. Wenn der Hund noch zu gestresst ist, noch nicht angekommen ist oder andere Baustellen hat, muss vorher an der Basis gearbeitet werden (Stressmanagement, Gesundheit, Wohlbefinden, Sicherheit im Alltag bekommen etc.) – und zwar individuell. Was für Hund A gilt, muß nicht für Hund B gelten.
  • Hände weg von aversivem Hundetraining: Nicht nur bei Tierschutzhunden, aber vor allem bei denen, die bereits einen schlechten Start ins Leben hatten und harte Zeiten hinter sich haben. Sie haben es nicht verdient, für vermeintlich unerwünschtes Verhalten angeschrien, bestraft und gehemmt zu werden. Oft passiert das leider auch mit gewaltsamen Methoden (Zum Blog: Gewalt im Hundetraining). Es gilt immer die Ursache für unerwünschtes Verhalten herauszufinden, denn das ist die Wurzel allen Übels. Verhalten zu unterbinden sieht zwar anfangs “erfolgreich” aus, macht aber etwas mit den Emotionen deines Hundes und wirkt sich negativ auf die Mensch-Hund-Bindung aus. Vertrauen zu euch wird der Hund dadurch sicher nicht aufbauen.

Tierschutzhunde brauchen Verständnis, Zeit, Geduld & modernes Trainingswissen

Wenn du dich für einen Tierschutzhund interessiert, egal ob aus dem In- oder Ausland oder einen Second Hand Hund (ein Hund, der bereits eine oder mehrere Stationen hinter sich hat), solltest du dich bereits im Vorfeld möglichst gut informieren und vorbereiten. Leider mache ich in den Beratungen immer wieder die Erfahrung, dass Adoptionen blauäugig und vorschnell gemacht werden, ohne sich der möglichen Konsequenzen bewusst zu sein. Und dann leidet nicht nur der Hund, sondern das gesamte Lebensumfeld des Hundes.

Die Anpassung deines Tierschutzhundes an seine neue, fremde Welt braucht Zeit und Geduld. Und bringt in einigen Fällen massive Einschränkungen im Alltag der Bezugspersonen mit sich. Wenn du darauf vorbereitet bist, die zeitlichen und finanziellen Mittel aufbringen kannst und ein Netzwerk an professionellen Beratern und Therapeuten an deiner Seite hast, bist du auf jeden Fall gut vorbereitet. Zu wissen, was man vermeiden sollte und wie Du Deinem Hund die erste Phase des Kennenlernens möglichst angenehm gestaltest, erspart Dir und Deinem Hund jede Menge Stress, Ärger und Frust. Wünscht Du Dir nicht auch, von Anfang an alles richtig zu machen?

Falls dir jetzt einige Fragen unter den Nägeln brennen, die du besprechen möchtest, kannst du eine Hundesprechstunde buchen. Für bereits bestehende Verhaltensprobleme eignet sich eine online Verhaltensberatung. Gerne unterstütze ich dich auf dem weiteren Weg mit deinem Tierschutzhund!

Daniela Loibl MBA MSc

Daniela Loibl MBA MSc

  • Hunde-Verhaltensberaterin 
  • verhaltensmedizinische Tierpsychologin 
  • zertifizierte Hunde-Ernährungsberaterin
  • ehrenamtliche Hundetrainerin im Tierheim
  • Buchautorin “Fred & Otto, Wanderführer für Hunde”

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